Carnival

Ausnahmezustand – oder wie Feiern auf londonerisch aussieht

Da ich noch nie in meinem Leben „wirklich“ in London war, bevor ich mein Stipendium antrat, wusste ich vor der Abreise nur aus Erzählungen, was mich erwarten würde. Als feststand, dass Notting Hill meine neue Heimat sein würde, begann ich auf eigene Faust etwas zu recherchieren, und wenn es neben Julia Roberts und Hugh Grant, Portobello Road und dem berühmten Markt etwas gibt, das Mann und Frau von Welt mit diesem Stadtteil assoziieren, dann ist es Notting Hill Carnival, ein zirka zwei Tage andauerndes Fest, ein einziger großer Straßenumzug, fröhliche Menschen, street food, Musik und Tanz.

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1 Stadtteil, 2 Tage, 100000 Menschen

Das klingt doch wunderbar und folglich lockt dieses Spektakel auch jedes Jahr zigtausende Menschen im August zu diesem kollektiv urbanen Feierrausch. Weltberühmt, einer der größten Karnevals der Welt, liegt quasi bei mir um die Ecke? Das sollte man sich doch zu Gemüte führen. Aber „guess what“, Samstag, Sonntag, die beiden Haupttermine (des Events, des Karnevals… irgendein Objekt) waren, wie zu erwarten, bei mir arbeitstechnisch voll belegt.

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Mittendrin, statt nur dabei

Zuerst etwas enttäuscht ob dieses Versäumnisses, war ich dann sprichwörtlichst „mittendrin statt nur dabei…“! Und ich hatte ja so was von keine Ahnung…
Nach einer langen Freitagnacht im weißen Barjacket kroch ich etwas später, am Samstag Mittag, aus den Federn. Erholsam war der Schlaf nur bedingt, da sich ab etwa 7 Uhr früh sämtliche jamaikanischen London-Abordnungen zum ausgelassen Steeldrum-Bearbeiten eingefunden hatten, die lokale Kirchengemeine mit einem Bibelrollenspiel verzweifelt versuchte, mit dem Dezibelspiegel der übrigen Attraktionen mitzuhalten und Rauchschwaden von Barbeque, Grillhähnchen und sonstigen Speisen aus aller Herren Länder durch die Gassen waberten.
Das volle Ausmaß der Katastrophe wurde mir dann final bewusst, als ich aus der Haustüre stolperte oder es zumindest versuchte. Der ganze Stadtteil war abgeriegelt, Menschenströme, wie man sie sonst vielleicht aus wenig erfreulichen Nachrichtenmeldungen kennt, wälzten sich Haut an Haut durch die Gegend und strebten einem nicht näher definierten Ziel zu – vielleicht dem kollektiven Delirium.

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Einbahnstraße Underground

Die Tube Station: eine Einbahnstraße! Raus ja, rein nein!
Der Dienstbeginn rückte näher, die Chance, noch ein öffentliches Verkehrsmittel zu erreichen immer weiter in die Ferne. Mit Tasche und Füßen in der Hand, pflügte ich durch die Feiergemeinde, voll gesättigt von den überschweren Gerüchen in der Luft, betrunken von dem Alkoholdampf, der über der ganzen Gegend schwebte, bekifft von den nicht mehr zu zählenden Jointabgasen, die einem an jeder Ecke die Sinne vernebelten und, ehrlich gesagt, langsam leicht unentspannt.

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London Tourist Tour

Als um halb drei Uhr morgens dann die freundliche Öffi-Stimme Londons meinen Bus „on diversion“ schickte, war der Tag perfekt. Irgendwo im Nirgendwo stoppte der Bus, der mich eigentlich nach Hause bringen sollte, und nach einem versuchten Gespräch mit dem indischen Busfahrer war ich auch nicht näher über meinen Aufenthaltsort oder den Weg Richtung Bett informiert. Gerettet hat mich mein zerfledderter Stadtplan, seit Monaten mit mir gemeinsam auf der Reise.

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Kriegszustand

Je näher ich Notting Hill kam, desto ersichtlicher war das volle Ausmaß der Zerstörung, Bilder wie im Krieg. Die Müllberge waren höher als ich (ihr wisst ja, quartercask usw…), eine Abordnung von äußerst bemitleidenswerten Reinigungskräften und Räumfahrzeugen versuchte des Chaos’ Herr zu werden. Müde fiel ich dann doch irgendwann ins Bett, um den neuen Tag und Teil zwei des Ausnahmezustands zu erwarten. Alles auf Anfang, selbes Spiel noch einmal.

Die Briten sind ein trinkfreudiges Völkchen und Gründe zu feiern und trauern (oder einfach so zu trinken) finden sich viele. Dass nicht jeder Organismus dieselbe Unmenge an Alkohol entsprechend verarbeiten kann, müssen dann viele – jung wie alt – unbedingt selbst ausprobieren. Aber ich bin mir sicher, Gott sei Dank, werden sich daran ohnehin die wenigsten erinnern können.

Ein Carnival, eine Erfahrung, ein Spektakel und ich: mittendrin statt nur dabei!!
Cheers und mit den besten Spirits,
Euer Reini

PS: DRINK RESPONSIBLE!! ;)